Lesungen

Der kleine Prinz

Vor vielen Jahren begleitete ein kleiner Prinz, der von einem winzigen Planeten gekommen war, den Dichter Saint Exupéry durch die Wüste. Dieser ewig kleine Prinz war seitdem immer wieder mal zurück gekommen, denn er liebte diesen Planeten und die Menschen, für die er einen Namen hatte: „Wunderbare Wesen“. Diesmal landete er auf einer herbstlichen Wiese direkt neben einem jungen Paar, das unter einem mächtigen Baum saß. „Ich bin der ewig kleine Prinz“, stellte er sich vor. „Ich will euch nicht erschrecken und nicht stören, doch sagt mir, wieso seid ihr so traurig?“

„Wir wissen nicht, wie es um unsere Liebe steht“, erklärte der Mann, „darum sind wir hier, um nachzudenken.“ „Vielleicht hat unsere Liebe keine Zukunft“, sagte die Frau. „Oh“, sagte der ewig kleine Prinz.

Sie schwiegen miteinander, betrachteten die fallenden Blätter, lauschten dem Rauschen des nahen Baches. Der Mann kauerte sich zusammen, die Frau schloss ihre Jacke, als merkten beide jetzt erst, dass es kühl geworden war im Park.

Die Frau blickte den kleinen Prinzen an: „Du bist doch Experte in Sachen Liebe, was kannst du uns raten. „Ich?“, sagte der ewig kleine Prinz, „ich kenne mich in der Liebe nicht so gut aus wie ihr Menschen; Experte bin ich im Reisen, von Land zu Land, von Planet zu Planet, und durch die Zeit. Fasst euch an der Hand und ergreift auch meine. Ich nehme euch mit auf eine Reise durch die Zeit, eine kurze Reise nur.“

Kaum hatten sich ihre Hände berührt, da standen sie in einer Hochzeitskirche direkt vor dem Altar. „Ich liebe dich so sehr“, sagte der Mann, "ich werde dich lieben, immer, und ich werde da sein für ewig und länger; ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen", nahm ihre Hand und streifte den Ring auf ihren Finger.

Sie nahm seine Hand und sprach:

„Seit unsere Wege sich kreuzten ist mein Leben hell und glücklich; an deiner Seite möchte ich bleiben solange die Sterne leuchten, und bis der Himmel untergeht und Worte keinen Sinn mehr ergeben. Ich gebe alles dafür, dir zu sagen: Ich liebe dich, für immer!"

Beide sprachen gemeinsam weiter:

„Ich werde niemals müde von der Liebe, die du mir gibst, du weißt, dass ich dich liebe - ein Leben lang!“

Kaum hatten sie diese Sätze gesprochen, waren sie wieder zurück unter dem Baum im Park. Sie hielten sich noch an den Händen. „Weißt du noch, da war das Lied mit dem Titel Always, wie wir den englischen Liedtext übersetzten und unser Trauversprechen daraus machten“, sagte er. „Unsere Liebeserklärung am Traualtar ist aus dem Text eines Liedes, das wir damals so sehr mochten“, erklärte sie zum Prinzen gewandt.

„Ja, mit der Zeit vergisst man vieles“, sagte der Mann.

"Wenn die Erinnerung verblasst, so stirbt die Liebe?“, fragte der Prinz, „ist es so bei euch Menschen?"

„Nein“, sagte die Frau, „wenn Herzen sich schließen, stirbt die Liebe und dann verblasst die Erinnerung an alles Lebenswerte.“

„Aha“, sagte der Prinz, „das will ich mir gerne merken: „Wenn Herzen sich schließen, stirbt die Liebe und es verblasst die Erinnerung an alles Lebenswerte.“

Sie schaute dem Mann in die Augen.

„Seit unsere Wege sich kreuzten ist mein Leben hell und glücklich; an deiner Seite möchte ich bleiben solange die Sterne leuchten“, flüsterte sie.

Bei diesen Worten klang Ihre Stimme wie damals am Traualtar.

„Die Herzen der Menschen können sich also verschließen, aber sie können sich wieder öffnen. Ihr seid so wunderbare Wesen, ihr Menschen“, sagte der Ewig Kleine Prinz. „Nun muss ich weiterreisen; vielleicht treffe ich euch mal wieder, hier unter dem Baum, dann vielleicht im Frühling.“

Das Glück wächst aus der Dankbarkeit

Der kleine Prinz, der vor vielen Jahren den Dichter Saint Exupéry begleitet hatte, war wieder auf die Erde gekommen, um mehr über die Menschen zu erfahren. Dazu setzte sich gern zu Menschen auf die Bank im Park. Da begegnete er denen, die innehalten, sich besinnen, ausspannen, zurück oder in die Zukunft blicken und sich zumeist einlassen auf ein Gespräch mit ihm.

"Wir sind zusammen alt geworden", sagte eine Frau. "Wir sind unseren Lebensweg Seite an Seite gegangen, wie wir es uns vor vielen Jahren am Traualtar versprochen haben", ergänzte der Mann an ihrer Seite, "und wir sind dankbar und glücklich, immer noch glücklich."

"Gern lerne ich etwas über das Glücklichsein", sagte der ewig kleine Prinz. "Ich habe schon viel gelernt über Traurigkeit, über Sorge und Not der Menschen, wenig über das Glück. Ich spüre, ihr lebt glücklich miteinander, ihr strahlt es aus. Sicher ist euer Zusammenleben geprägt von Harmonie und ihr habt euch nie gestritten."

"Nie gestritten?", wiederholt der Mann, "wir …" "Sehr oft", fiel ihm die Frau ins Wort. "Oh doch, auf unserem lagen gemeinsamen Weg haben immer wieder mal Meinungsverschiedenheiten ausgetragen. Dennoch blicken wir dankbar auf die gemeinsame Zeit zurück; ja, wir sind glücklich."

"Dankbar seid ihr, weil es euch sicherlich immer gut ging. Ihr bliebt verschont von Krankheit und Schmerz, von Trauer und von Rückschlägen", sagte der kleine Prinz. "Das erklärt eure Zufriedenheit.""Krankheit", antwortete der Mann, "davon können wir ein Lied singen.""Und von Schmerzen", ergänzte die Frau, "auch von traurigen Zeiten."

"Ich dachte, ihr seid so glücklich, weil euer Leben verschont war von Sorge und Not. Doch ihr habt alle Höhen und Tiefen durchlebt", sagte der kleine Prinz. "Und doch sprecht ihr von Glück?"

"Wenn ich auf unser Leben zurückschaue", sagte die Frau, "denke ich, wir sind noch heute so glücklich miteinander, weil wir stets dankbar waren, immer wieder dankbar." "Welche steinigen Strecken miteinander auch zu überwinden sind", ergänzte der Mann, "Undank sollte nicht das Herz ergreifen. Das wäre ungerecht, ungerecht dem Partner gegenüber, mit dem man so viele wunderbare Strecken ging, und ungerecht Gott gegenüber, der uns so viel schenkte."

„Glück und Dankbarkeit gehören zusammen?“, fragte der kleine Prinz.

„Ich denke, Dankbarkeit ist ein wichtiger Schlüssel“, sprach der Mann. „Glücklich kann nur sein und bleiben, wer dankbar ist."

"Ich habe von euch viel gelernt über das Glück der Menschen“, sagte der ewig kleine Prinz. Und er wiederholte, um es sich zu merken: „Glücklich kann nur sein und bleiben, wer dankbar ist."

Die kluge Bauerntochter

Ein Märchen über die Liebe aus der Sammlung der Gebrüder Grimm

Die Bauerntochter hatte geheiratet. Es war ein wunderschönes Fest gewesen. Doch im grauen Alltag mit seinem Stress und verschiedenen Belastungen gab es nach einiger Zeit immer häufiger Streit zwischen den Eheleuten. Das Vertrauen war dahin. Eines Tages sagte der Mann zu seiner Frau: "Wir werden uns trennen. Doch ich erlaube dir, dass du das Liebste und Beste aus diesem Haus mitnehmen darfst."

Die kluge Frau wartete, und als ihr Mann eingeschlafen war, holte sie einen Nachbarn. Beide trugen sie den Schlafenden in die Kutsche, und die Frau fuhr mit ihrem Mann davon. Als der Mann wach wurde, fragte er: "Wo bin ich?" Und seine Frau sagte: "Du hast gesagt: ich solle das Liebste und Beste mitnehmen und das habe ich getan, denn ich habe nichts Lieberes als dich." Da stiegen dem Mann die Tränen in die Augen. Er nahm seine Frau in die Arme und beide begannen aufs Neue ihr Leben miteinander zu teilen.

Die Insel der Gefühle

Vor langer Zeit existierte einmal eine wunderschöne, kleine Insel. Auf dieser Insel waren alle Gefühle der Menschen zu Hause: Der Humor und die gute Laune, die Traurigkeit und die Einsamkeit, das Glück und das Wissen und all die vielen anderen Gefühle. Natürlich lebte auch die Liebe dort. Eines Tages wurde den Gefühlen jedoch überraschend mitgeteilt, dass die Insel sinken würde. Also machten alle ihre Schiffe seeklar, um die Insel zu verlassen. Nur die Liebe wollte bis zum letzten Augenblick warten, denn sie hing sehr an ihrer Insel.

Bevor die Insel sank, bat die Liebe die anderen um Hilfe.

Als der Reichtum auf einem sehr luxuriösen Schiff die Insel verließ, fragte ihn die Liebe: „Reichtum, kannst du mich mitnehmen?“ „Nein, ich kann nicht. Auf meinem Schiff habe ich sehr viel Gold, Silber und Edelsteine. Da ist kein Platz mehr für dich.“

Also fragte die Liebe den Stolz, der auf einem wunderbaren Schiff vorbeikam. „Stolz, bitte, kannst du mich mitnehmen?“ „Liebe, ich kann dich nicht mitnehmen“, antwortete der Stolz, „hier ist alles perfekt und du könntest mein schönes Schiff beschädigen.“

Als nächstes fragte die Liebe die Traurigkeit: „Traurigkeit, bitte nimm du mich mit.“ „Oh Liebe“, sagte die Traurigkeit, „ich bin so traurig, dass ich allein bleiben muss.“

Als die gute Laune losfuhr, war sie so zufrieden und ausgelassen, dass sie nicht einmal hörte, dass die Liebe sie rief.

Plötzlich aber rief eine Stimme: „Komm Liebe, ich nehme dich mit.“ Die Liebe war so dankbar und so glücklich, dass sie ganz und gar vergaß, ihren Retter nach seinem Namen zu fragen.

Später fragte die Liebe das Wissen: „Wissen, kannst du mir vielleicht sagen, wer es war, der mir geholfen hat?“ „Ja sicher“, antwortete das Wissen, „das war die Zeit.“ „Die Zeit?“ fragte die Liebe erstaunt, „Warum hat mir die Zeit denn geholfen?“ Und das Wissen antwortete: „Weil nur die Zeit versteht, wie wichtig die Liebe im Leben ist.“

Die Liebe und der lange Weg des Lebens

von Phil Bosman

Wie kommen zwei Menschen zusammen, so eng zusammen, dass sie in stiller Zuneigung oder in leidenschaftlicher Begeisterung gemeinsam durchs Leben gehen wollen?

Es ist ein großes Geheimnis. Man kann nicht sagen, was die beiden so zueinander zieht. Vielleicht ein Blick, eine Bewegung, eine Bemerkung, ein Lachen.

Bei jeder Begegnung schlug das Herz schneller. Man träumte voneinander, und man beschloss, miteinander zu wohnen. Man fühlte sich zu Hause, geborgen in dem großen Geheimnis, das die Menschen „Liebe“ nennen. Man wuchs mit dem Leben des anderen zusammen, so, wie zwei Zweige an einem Stamm und aus einer Wurzel wachsen.

Aber der Lebensweg ist lang. Nicht jeden Tag läuten die Festglocken. Die erste Begeisterung geht vorüber, und es kommen viele eintönige Tage. Man merkt mit der Zeit immer mehr, dass der andere nicht nur gute Seiten hat. Du ärgerst dich und denkst vielleicht: Ich habe mich geirrt. Aber du hast dich nicht geirrt. Du bist nur ein Mensch wie viele andere Menschen auch.

Alles Leben unterliegt dem Rhythmus von Tag und Nacht, Hoch und Tief, Ebbe und Flut. Jedes Jahr wird es Frühling und Herbst, Sommer und Winter. Hab Geduld, viel Geduld mit dir selbst und noch mehr mit dem anderen, verlass niemals das Haus der Liebe und Treue. Die Liebe der Leidenschaft kann losbrechen wie ein Sturm, der Menschen entwurzelt. Seine Gewalt treibt die einen zusammen und die anderen auseinander. Aber eines Tages legt sich auch der heftigste Orkan. Dann wird das Ausmaß der Zerstörung sichtbar. Wenn der Sturm losbricht, gerate nicht in Panik, lass nicht alles los. Halte dich an den Wurzeln fest. Warte und hab Geduld, endlos Geduld. Der Sturm wird vorübergehen, echte Liebe wird bleiben.

Wo der Himmel die Erde küsst

Eine alte Legende erzählt, dass es zwei Menschen gab, die überaus glücklich miteinander lebten. Sie waren zufrieden mit dem, was sie hatten und miteinander teilten. Ihre Liebe wuchs durch die Jahre ihres Zusammenlebens. Niemand konnte diese Liebe zerstören.

Eines Tages lasen sie in einem alten Buch, dass es da irgendwo in der Ferne, vielleicht am Ende der Welt, einen Ort gäbe, wo unermessliches Glück herrschte. Ein Ort sollte dies sein, so sagte das alte Buch, an dem der Himmel die Erde küsst.

Die beiden beschlossen, diesen Ort zu suchen. Der Weg war lang und voller Entbehrungen. Bald wussten sie nicht mehr, wie lange sie schon unterwegs waren, doch aufgeben wollten sie nicht.

Fast am Ende ihrer Kraft erreichten sie eine Tür, wie sie im Buch beschrieben war. Hinter dieser Tür sollte es sich befinden: Das große Glück, das Ziel ihres Hoffens und Suchens. Welch eine Spannung war in ihnen. Wie sollte er aussehen, der Ort an dem der Himmel die Erde küsst, der Ort an dem ein solches Glück herrscht?

Sie klopften an und die Tür öffnete sich. Sie fassten sich an der Hand und traten ein. Da standen sie nun – wieder mitten in ihrer Wohnung. Am Ende dieses langen Weges waren sie wieder bei sich zu Hause angekommen.

Und sie verstanden: Der Ort, an dem der Himmel die Erde küsst, ist dort, wo die Menschen sich küssen. Der Ort, an dem der Himmel die Erde berührt, ist dort, wo die Menschen sich berühren. Der Ort, wo der Himmel sich öffnet, ist der Ort, an dem die Menschen sich füreinander öffnen. Der Ort des großen Glücks ist der Ort, wo Menschen sich glücklich machen.

Eine romantische Geschichte

“Als Sonne und Regen noch nichts voneinander wussten, war alles trostlos. Dort, wo der Regen Tag und Nacht auf die Erde prasselte, war es nass und kalt. Es war stockdunkel und alles war überschwemmt.

Dort, wo die ganze Zeit die Sonne schien, war es sengend heiß.

Der Boden war ausgedörrt und hatte tiefe Risse.

Dabei war es so gleißend hell, dass jedes Auge geblendet war. Als Sonne und Regen noch nichts voneinander wussten, gab es kein Leben auf der Erde und alles war tot.

Da geschah es, dass die Liebe auf die Erde kam und sich alles genau anschaute.

Als sie da war, verspürten Regen und Sonne plötzlich eine große Sehnsucht in sich.

Sie wussten zwar nichts voneinander, aber sie begannen zu ahnen, dass ihnen etwas fehlte.

Und sie verließen ihr Zuhause und begannen zu suchen.

Lange irrten sie hin und her.

Schließlich kam der Regen in den früheren Bereich der Hitze, während die Sonne in die ehemaligen Überschwemmungsgebiete gelangte.

Als die Sonne das dunkle Land erhellte und ihre Strahlen auf das viele Nass schickte, begann das Wasser zu verdunsten und fruchtbarer Boden kam zum Vorschein.

Auch der Wüstenboden veränderte sich, als die ersten Regentropfen auf ihn fielen.

Begierig saugte er das Nass auf und die tiefen Furchen begannen sich zu schließen.

Und es geschah zum zweiten Mal, dass die Liebe kam, um sich alles genau anzusehen.

Da wurden Sonne und Regen erneut von großer Sehnsucht erfüllt und sie begannen zu suchen.

Sie kehrten in ihre Heimatländer zurück und wunderten sich, dass dort alles anders war.

Zum dritten Mal kam die Liebe und ließ in Sonne und Regen die Sehnsucht erwachen.

Da machten sich die zwei erneut auf die Suche.

Endlich begegneten sie einander und erkannten sich.

Als Sonne und Regen aufeinander trafen, erwachte die Erde zum Leben, und alles begann zu blühen.

Und die Liebe war da und schaute sich alles an. Und sie sah, dass es gut war.”

Der gordische Knoten

Ein Text von Erich Kästner

 

Wir alle kennen ihn noch aus der Geschichtsstunde, den makedonischen Alexander. Und auch die Anekdote mit dem berühmten gordischen Knoten kennen wir noch, die dem jugendlichen Eroberer nachgesagt wird. Als er in Gordium einzog und von dem kunstvoll verschlungenen Knoten hörte, den bislang kein Mensch hatte aufknöpfen können, ließ er sich stracks hinführen, besah sich das berühmte Ding von allen Seiten, bedachte den Orakelspruch, der dem Auflöser des Problems großen Erfolg und weithallenden Ruhm verhieß, zog kurzentschlossen sein Schwert und hieb den Knoten mitten durch.

Na ja. Die Soldaten Alexanders jubelten natürlich. Und man pries die Intelligenz und Originalität des jungen Königs. Das ist nicht gerade verwunderlich. Eines muß ich allerdings ganz offen sagen, – meine Mutter hätte nicht dabeisein dürfen! Wenn meine Mutter daneben gestanden hätte, hätte es Ärger gegeben. Wenn ich als Junge, kein Haar weniger originell und intelligent als Alexander,  beim Aufmachen eines verschnürten Kartons kurz entschlossen mein Schwert, beziehungsweise mein Taschenmesser zog, um den gordischen Bindfaden zu durchschneiden, bekam ich mütterlicherseits Ansichten zu hören, die denen des Orakels diametral widersprachen und die jubelnden Truppen aus Makedonien außerordentlich verblüfft hätten. Alexander war bekanntlich ein großer Kriegsheld, und die Perser, Meder, Inder und Ägypter pflegten Tag und Nacht vor ihm zu zittern. Nun, meine Mutter hätte sich diesem Gezitter nicht angeschlossen. „Knoten schneidet man nicht durch!“ hätte sie in strengem Tone gesagt. „Das gehört sich nicht, Alex! Strick kann man immer brauchen!“

Und wenn Alexander der Große nicht so jung gestorben, sondern ein alter, weiser Mann geworden wäre, hätte er sich vielleicht eines Tages daran erinnert und bei sich gedacht: „Diese Frau Kästner, damals in Gordium, hatte gar nicht so unrecht. Knoten schneidet man nicht durch. Wenn man es trotzdem tut, sollten die Soldaten nicht jubeln. Und wenn die Soldaten jubeln, sollte man sich wenigstens nichts darauf einbilden!“

Was ist die Liebe

von Hermine Czigler von Eny-Vecse

 

O sprich! Was ist die Liebe?

In einem Wort die Welt!

Ein Märchen ohne Ende,

Von Geistermund erzählt;

In einer kleinen Träne

Ein weiter Ozean,

In einem leisen Seufzer

Ein wirbelnder Orkan;

Der Himmel und die Hölle

In einem einz'gen Blick,

Ein allvernichtend Wehe,

Ein allumfassend Glück;

Ein Blitz in einer Berührung,

Der dich durchzuckt mit Macht,

Dich überselig oder

Dich überelend macht;

Die Gegenwart und Zukunft

In einem Druck der Hand;

In einem einz'gen Kusse

Ein lohender Weltenbrand,

Ein magisches Gewebe

Von Traum und Wirklichkeit,

In einem Augenblicke

Die ganze Ewigkeit;

Ein Meisterroman der Schöpfung,

Des Lebens Poesie, -

Das hohe Lied der Seele,

Die Weltensymphonie;

Ein rätselhaftes Dunkel,

Ein Strahl des Gotteslichts,

Ein Engel und ein Dämon,

Ein Alles und ein Nichts!

 

 

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